Nachhaltig. Stark. Weiblich. „ Wir brauchen mehr erfolgreiche Gründerinnen, die später Investorinnen werden“

Dr. Anne Lamp von traceless®
Wie wird aus Kakaobohnen Schokolade? Warum schäumt Seife? Anne Lamp wollte solchen Fragen schon als Kind auf den Grund gehen. Als Tochter naturwissenschaftlich geprägter Eltern und begeisterter Galileo-Fan interessierte sie sich dafür, wie Dinge funktionieren. In der Schule glänzte sie in Mathe und Chemie, später studierte sie Verfahrenstechnik an der TU Hamburg. „Doch schon im Studium wurde mir klar: meine Fachrichtung wird vor allem dort gebraucht, wo fossile Produkte und Chemikalien hergestellt werden. Das kam für mich nicht infrage - ich wollte an Lösungen für die Probleme von heute arbeiten “, erzählt sie.
Auf der Suche nach einem Job mit Sinn landete sie schließlich in einem Unternehmen, das Biokraftstoffe herstellte. Die Idee, Abfälle in wertvolle Produkte zu verwandeln, begeisterte sie. Nach ihrer Promotion und sechs Jahren Berufserfahrung gründete sie 2020 das Start-up traceless® – und sagte damit der weltweiten Plastikverschmutzung den Kampf an.
traceless materials® können in der Natur vollständig zersetzt werden
traceless materials® entwickelt und produziert aus rein pflanzlichen Rohstoffen kunststoffähnliche, fossilfreie Plastikalternativen. „Naturpolymere haben mich schon lange fasziniert. Mit einer Art wissenschaftlichen Grundnaivität kam ich schnell zu der Erkenntnis: das Dümmste, was ich machen könnte, wäre es nicht zu versuchen.“ Mit dieser Überzeugung stürzte sich Anne Lamp gemeinsam mit ihrer damaligen Mitgründerin Johanna Baare in die Start-up-Szene. Johanna brachte den betriebswirtschaftlichen, Anne den technologischen Fokus mit. Gemeinsam gelang es ihnen, Investoren davon zu überzeugen, dass ihre Vision von traceless materials® aufgehen kann – finanziell und ideell.
„Kunststoffe und Bio-Kunststoffe sind synthetisch so zusammengesetzt, dass die Natur sie nicht erkennt und Mikroorganismen sie nicht abbauen können. Unser innovatives Biomaterial hingegen basiert auf Naturpolymeren aus Resten der Getreideverarbeitung. Diese wandeln wir so um, dass sie zwar ähnliche Eigenschaften aufweisen wie Plastik, jedoch vollständig zersetzbar sind.“ Das Material in Granulatform kann dann zum Beispiel zur Beschichtung von Einweggeschirr oder für Verpackungen verwendet werden. Umgebungstemperaturen, Wasser und fleißige Mikroorganismen sind alles, was es braucht, um es am Ende seines Lebenszyklus spurlos zu beseitigen. „Aufgrund seiner Abbaubarkeit kann traceless®zwar keine Ketchup-Flasche ersetzen. Doch Produkte wie beschichtete Kaffeebecher, die besonders oft in der Natur landen, werden damit komplett kompostierbar“, erklärt Anne Lamp.
Wer als Frau selbstbewusst auftritt, gilt schnell als arrogant
Aktuell beschäftigt traceless® fast 100 Mitarbeitende, 41 Prozent davon sind Frauen. Anne Lamp kennt die Hürden, die Frauen in naturwissenschaftlichen Berufen begegnen. „Oft hatte ich das Gefühl, mich doppelt so sehr anstrengen zu müssen, um die gleiche Anerkennung zu bekommen wie meine männlichen Kollegen. Eine Zeit lang habe ich mir die Haare streng zurückgebunden und bewusst versucht, mit tiefer Stimme zu sprechen – und hörte trotzdem Sätze wie: ‘Für eine Frau machst du das echt super‘. Bei traceless® war mir von Anfang an wichtig, eine Unternehmenskultur zu schaffen, in der solche Kommentare keinen Platz haben.“
Auch bei der Investorensuche stieß sie auf derartige Muster. Ihr Eindruck: „Frauen können es kaum richtig machen. Treten sie selbstbewusst auf, gelten sie schnell als arrogant. Sind sie zurückhaltender, werden sie als schüchtern und unsicher wahrgenommen. Männer hingegen wirken dann zielstrebig oder überlegt. Diese Denkmuster sitzen tief.“ Zahlen belegen das daraus resultierende Gender Investment Gap. Laut Startup-Barometer von Ernst & Young erhielten im Jahr 2024 nur 194 Frauen frisches Kapital für ihre Start-ups – im Vergleich zu 1633 Männern. Vier Prozent der Jungunternehmen hatten rein weibliche Gründungsteams, erhielten aber nur ein Prozent des Kapitals.[1] „ Wir brauchen viel mehr erfolgreiche Gründerinnen, die später selbst Investorinnen werden und in der männlich dominierten Investorenlandschaft für mehr Balance und Diversität sorgen“, fordert Anne Lamp.
In vielen steckt noch die alte Überzeugung:
Mädchen sei vorsichtig, Junge du schaffst das
Bei traceless® setzt sie sich besonders für Geschlechtergerechtigkeit ein. „Unsere Gehälter sind sehr transparent und richten sich nach Verantwortungsgrad und Expertise. Sexismus und Diskriminierung haben bei uns keinen Platz. Wir führen auf Basis der systemischen Führung und setzen auf Selbstorganisation, Eigenverantwortung und viel Raum für Entwicklung statt auf starre Hierarchien.“ Frauen, die über eine Gründung nachdenken, möchte sie ermutigen. „In vielen von uns steckt noch die alte Überzeugung: Mädchen sei vorsichtig, Junge du schaffst das. Wer eine Idee und Begeisterung für ihre Umsetzung hat, sollte es auf jeden Fall versuchen. Die Erfüllung, die das bringt, ist unbezahlbar!“
Zur Kolumne:
Ina Hiester ist freie Journalistin mit den Schwerpunktthemen Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit. Während einer umfassenden Recherche rund um das Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Biobranche stellte sie fest: viele Frauen sind zwar besonders empathisch und naturverbunden und engagieren sich für gesellschaftlichen Wandel. Doch auch im 21. Jahrhundert werden ihre Leistungen oft nicht genug anerkannt. In ihrer BNW-Porträt-Reihe „Nachhaltig. Stark. Weiblich.“ stellt die Journalistin deshalb Unternehmerinnen vor, die sich mit Herz und Verstand den ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit stellen.
Zur gesamten Reihe "Nahhaltig. Stark. Weiblich"
[1] https://www.ey.com/de_de/newsroom/2025/03/ey-startup-barometer-2025-gruenderinnen-und-gruender