Sozial. Stark. Sichtbar. - Wie Constanze Klotz und Hanna Charlotte Erhorn das Social Business Bridge & Tunnel gründeten

Künstliche Achselhaare und eine Palme auf dem Kopf
Wie Constanze Klotz und Hanna Charlotte Erhorn das Social Business Bridge & Tunnel gründeten
Ausgerechnet mit künstlichen Achselhaaren und einer Küchenrollen-Palme auf dem Kopf fing alles an. Auf einer Bad-Taste-Party in Lüneburg lernten sich Hanna Charlotte Erhorn, kurz Lotte, und Constanze Klotz, genannt Conny, kennen. Und merkten schnell, dass sie denselben Humor teilten. Doch dass aus dieser Begegnung einige Jahre später ein Sozialunternehmen entstehen würde, ahnten die beiden damals nicht. Einige sporadische Begegnungen später war es dann so weit. Während viele Menschen um den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg lieber einen Bogen machen, wollte Conny als Kulturwissenschaftlerin dort einen kreativen Ort erschaffen. In ihrem vorherigen Job in der Stadtplanung initiierte sie das Stoffdeck, einen Coworking Space für ambitionierte junge Designer:innen, die zuhause keinen Platz für Nähmaschinen hatten. Doch bald merkte sie, dass der Ort eine Werkstattleiterin brauchte. Kaum hatte sie auf Facebook die Stelle gepostet, landete schwupps eine E-Mail von Textildesignerin Lotte im Postfach. „Liebe Conny, du suchst mich!“ Damit war die Manufaktur Bridge & Tunnel geboren, die benachteiligten Frauen und Stoffen eine zweite Chance gibt.
Hast du keinen Zettel, hast du kein Talent
Rrrrrrrrrrr. Es dauerte nicht lange, bis dieses Geräusch durch den Coworking Space in Wilhelmsburg hallte. In der Küche hatte beiläufig jemand erwähnt, dass sich türkische Frauen jeden Mittwoch in der nahegelegenen Moschee trafen und ihre Haushaltnähmaschinen dorthin schleppten. „Dabei hatten wir hier Profi-Equipment vor Ort“, erinnert sich Constanze Klotz. Sie luden die Frauen ein und schon bald entstand mitten in Wilhelmsburg opulente, kunstvoll genähte türkische Hochzeitsmode. Doch das war nicht alles. Die beiden Gründerinnen fragten sich, wer eigentlich vormittags Zeit zum Nähen hatte und lauschten den Geschichten. „Die Frauen hatten so viel handwerkliches Talent. Aber weil sie keine verbriefte Qualifikation hatten – wie es im Amtsdeutsch heißt – fanden sie in Deutschland keinen Job“, erzählt Conny. Ohne Zertifikat bist du nix. „Einige der Frauen hatten Fluchtbiografien, waren gehörlos, konnten kein Deutsch oder wurden als zu alt abgestempelt. Sie wurden immer unsichtbarer in unserer Gesellschaft.“ Das wollten Conny und Lotte ändern und gründeten 2015 ihr Sozialunternehmen. Ihr Ziel: Das Talent der Frauen sichtbar machen und Brücken zum ersten Arbeitsmarkt bauen. Und weil ihr Space auf der Elbinsel nur über Brücken und Tunnel erreichbar war, stand der Name fest.
Ein ganzer LKW voller Probleme
Unglaublich! Das dachte Conny, als sie beobachtete, was im Gewerbehof der Werkstatt vor sich ging. Denn dort befand sich eine Kleiderkammer, die täglich mehrmals beliefert wurde. „Wie viel Alttextilien muss es eigentlich auf diesem Planeten geben, wenn allein bei uns jeden Tag mehrere LKWs vorfahren?“, fragte sie sich. Schnell war klar: Das hier war nur ein kleiner Ausschnitt eines globalen Problems. Einfach hinnehmen? Das kam für Conny und Lotte nicht in Frage. Sie beschlossen, ihr Konzept um Upcycling zu erweitern und Alttextilien zu verarbeiten. Bald kümmerten sie sich nicht nur um Deutschkurse oder die Wohnungssuche ihrer Mitarbeiterinnen, sondern auch darum, was aus einer alten Männerjeans überhaupt noch werden kann. Ihre Idee kam gut an, Spender:innen waren schnell gefunden. Doch ein anderes Thema blieb schwierig.
„Wollt ihr das wirklich?“
So oder ähnlich lauteten viele Kommentare. Könnt ihr dem konventionellen Wettbewerb überhaupt standhalten? Faire Löhne in Deutschland? Und dann auch noch Upcycling? Trotz der Unkenrufe ließen sich Conny und Lotte nicht beirren. Sie glaubten an ihre Idee und daran, dass Wirtschaft anders funktionieren kann. „Irgendjemand muss ja vorangehen!“ Fast alle fanden ihre Idee gut: sinnvoll, inspirierend, richtungsweisend. Aber mehr bezahlen? Für Kleidung? „Es gibt ja den viel beschworenen Attitude-Behavior-Gap“, erklärt Conny. „Keiner findet faire Kleidung schlecht, aber die entscheidende Frage ist: Wer kauft dann auch?“ Anfangs hielten sie die Zurückhaltung für Wachstumsschmerzen. Die würden sich schon legen, dachten sie. Doch Mainstream ist faire Mode keineswegs, ihr Anteil am Gesamtmarkt liegt immer noch unter fünf Prozent. Gewinn machen und einen Puffer für Krisenzeiten aufbauen, ist so äußerst schwierig.
„Es braucht wirtschaftliche Anreize, um anders zu agieren. Warum haben denn faire Akteure nicht zum Beispiel einen verminderten Mehrwertsteuersatz? Wie oft wir unseren Kund:innen erklären, dass Achtung 19 Prozent des Kaufpreises die Mehrwertsteuer ist, das ist immerhin ein Fünftel. Also ich glaube es braucht Anreize, die Unternehmen, die die Extrameile gehen, begünstigen.“
— Constanze Klotz, Bridge & Tunnel
Ich muss euch etwas sagen…
Als sie diesen Satz hörte, war Conny und Lotte sofort klar, dass etwas passiert war. Ihre Werkstattleiterin hatte etwas auf dem Herzen. „Wir haben alle schwer geweint, aber es ist trotzdem eine schöne Geschichte“, verrät Conny. Was war passiert? Kurz nach dem starken Erdbeben in der Türkei, beschloss die in Deutschland aufgewachsene Asiye, in der Türkei beim Wiederaufbau zu helfen. Und dort anschließend eine eigene Manufaktur zu gründen. Etwas, dass sie sich vor Jahren niemals hätte vorstellen können. „Es hat uns sprachlos gemacht, dass sie durch die vielen Jahre bei uns so gestärkt und empowert worden ist, dass sie nun selbst unternehmerisch tätig sein will“, erzählt Conny. Und irgendwie ist sie auch ein bisschen stolz auf den Selbstbewusstseins-Boost, den sie bei Bridge & Tunnel ihren Mitarbeiterinnen verpassen. So ließen sie ihre langjährige Werkstattleiterin mit einem lachenden und einem weinenden Auge ziehen und fanden eine Nachfolgerin. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir ein dauerhaftes Achterbahnticket haben.“ Kaum ist ein Looping überwunden, steht der nächste schon bevor.
Dann war es aus mit dem Nachhaltigkeitsboom
Gähn. So fühlt es sich an, wenn im Jahr 2025 das Schlagwort Nachhaltigkeit fällt. Niemand kann es mehr hören. Schon gar nicht in Zeiten, in denen viele den Gürtel enger schnallen müssen. Und nun? Da bleibt nur anpassen. Inzwischen sprechen Conny und Lotte eher über Female Empowerment und Menschlichkeit. Was Conny besonders nervt: Dass sich in der Nachhaltigkeitsdebatte fast alles um Mobilität oder Energie dreht. Dabei verursache die Mode- und Textilbranche mehr CO₂ als Flugzeuge und Kreuzfahrten zusammen. Während Bridge & Tunnel seit Jahren mit dem Social Reporting Standard arbeitet, messen klassische Unternehmen nach wie vor nur KPIs. Doch was Conny wirklich empört, ist etwas anderes: „Textilien sind überall. Das ist kein Luxusthema, sondern betrifft uns alle. Niemand sitzt hier nackig. Aber die Wertschätzung ist verloren gegangen.“ Viele hätten die Vorstellung einer vollautomatisierten Produktion: oben Baumwolle rein, unten T-Shirt raus. Aber so funktioniert es selbst in unserer hochindustrialisierten Welt nicht. „Ich glaube wir haben verlernt, dass Textilien von echten Menschen gemacht werden. Alles handmade, steht nur nicht drauf.“ Deshalb schreiben bei Bridge & Tunnel alle Mitarbeiterinnen ihre Namen auf die Labels. „Ich bewege mich immer zwischen totaler Empörung und großem Optimismus“, so Conny. „An fünf von sieben Tagen bin ich optimistisch. Aber manchmal frag ich mich ernsthaft, wie Nachhaltigkeit überall hinten runterfallen kann. Das ist zum Verzweifeln!“ Dabei könnten einfache Veränderungen viel bewirken.
„Wer darf sich nachhaltig nennen und wer nicht? Also das Thema Greenwashing ist eines, das unbedingt auf die politische Agenda muss. Ich habe keine Lust mehr auf Etikettenschwindel von großen Playern, die dazu führen, dass kleinere Akteure, die es wirklich ernst meinen, einen Nachteil erfahren.“
— Constanze Klotz, Bridge & Tunnel
Was Sozialunternehmen wirklich helfen würde
Nur eine Sache. Das wärs. Sie könnte den Unterschied machen. „Wir erklären unseren Kund:innen so oft, dass ein Fünftel unseres Preises allein die Mehrwertsteuer ist. Das ist enorm viel“, sagt Conny. Wenn Sozialunternehmen einem reduzierten Mehrwertsteuersatz unterlägen – oder gar keinem –, wäre das eine enorme Entlastung im harten Preiskampf. „Wir sagen gerne, faire Mode ist nicht zu teuer, sondern herkömmliche zu günstig.“ An anderer Stelle hat Bridge & Tunnel dafür die Nase vorn. Vor Bewerbungen können sich Conny und Lotte kaum retten. „Wir haben einen Fachkräftemangel in Deutschland. Deshalb sollten wir Menschen mit Fluchtbiografie schneller in Anstellung bringen. Bei Ukrainer:innen ging es doch auch mit viel weniger Bürokratie.“ Natürlich kann nicht jedes Unternehmen einfach Probenähen lassen, um die Fähigkeiten von Mitarbeiter:innen zu prüfen. Aber ein Umdenken wäre möglich. Etwa mit dem Teilhabechancengesetz. „Das ist ein tolles Tool mit vielen Fördermöglichkeiten über das Jobcenter. Wir haben eine Übernahmequote von 50 Prozent“, erzählt Conny. Denn entgegen so manchem Klischee eines neuen Kanzlers – die meisten Geflüchteten wollen arbeiten. „Wir haben viele Erfahrungen mit Menschen aus Syrien oder Afghanistan gemacht, die keine Arbeitserlaubnis hatten und nur darauf brannten, endlich etwas zu tun. Arbeiten ist der beste Deutschkurs.“ Heute arbeiten 13 Frauen bei Bridge & Tunnel. Und wer arbeitet, fühlt sich gebraucht, lernt Sprache, Gepflogenheiten und Selbstwirksamkeit viel schneller. „Es wäre schön, wenn wir das noch mehr Menschen ermöglichen könnten.“ Aber funktioniert das auch in Krisenzeiten?
„Wir haben viele Erfahrungen gemacht mit Menschen, die nicht arbeiten durften, weil sie zum Beispiel aus Syrien oder Afghanistan kamen und keine Arbeitserlaubnis hatten, die dann fünf Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft festsitzen und die darauf lauern, arbeiten zu können. Arbeit ist der beste Deutschkurs, du lernst Menschen kennen und fühlst dich gebraucht. Arbeit ist einfach so viel mehr als das Gehalt.“
— Constanze Klotz, Bridge & Tunnel
Jetzt mal ehrlich…
Neulich war es so weit. Auf der Bühne eines Hamburger Social-Entrepreneurship-Summits stellte der Moderator Conny die alles entscheidende Frage: Wie würdet ihr eure Finanzsituation beschreiben? „Meine Antwort war: stabil bewegt. Es gibt nicht so viele Social Businesses, die so lange am Markt sind wie wir.“ Doch darauf allein kommt es nicht an. Gibt es doch täglich neue Herausforderungen, bei denen Conny und Lotte als kreative Problemlöserinnen agieren müssen. Denn auch im Team steckt viel Bewegung, vor allem durch die Vielfalt an Perspektiven. „Klar ist das auch mal anstrengend, aber andererseits wahnsinnig bereichernd. Schließlich ist erwiesen, dass diverse Teams resilienter sind und kreativere Lösungsstrategien entwickeln.“ So kam es auch, dass Bridge & Tunnel begann, mit B2B-Kund:innen zusammenzuarbeiten. Vom FC St. Pauli kommen alte Sweater mit defekten Reißverschlüssen, die zu Taschen umgearbeitet werden und von Veolia ausrangierte Arbeitskleidung, aus der Turnbeutel und Bauchtaschen werden. Auch Produktionsüberschüsse oder Retouren landen mittlerweile auf den Nähtischen und das nächste Angebot ist schon geplant. Dabei könnte Conny und Lotte der Europäische Green Deal zu Hilfe kommen. „Wir möchten unseren Impact skalieren und setzen seit letztem Jahr aufs Thema Reparatur.“ Reparieren statt neu kaufen – das ist echte Kreislaufwirtschaft. Aber damit das funktioniert, muss die Qualität stimmen. Denn Billigware lässt sich oft gar nicht mehr flicken. Mit „Re.Vive“ bietet Bridge & Tunnel bereits an, Waren mit kleinen Fehlern für Unternehmen um- oder aufzuarbeiten. Doch eine große Hürde gibt es noch.
Immer diese Freiheit
Was wir denken und tun, sind oft zwei paar Schuhe. Verzichten möchte niemand, weil es sich nach Verlust anfühlt. Dabei geht es auch anders. Zum Frühjahr hat Conny die neuesten Modetrends mit Stücken aus ihrem eigenen Kleiderschrank nachgestylt, ohne ein einziges Teil neu zu kaufen. Irgendwie befriedigend, diese Unabhängigkeit. „Ich wünsche mir, dass mehr Menschen erkennen, dass ein anderer Konsum möglich ist. Wir müssen dafür nichts aufgeben – im Gegenteil: Wenn wir uns ein bisschen der Industrie entziehen, sind wir freier, als wir denken. Und das fühlt sich richtig gut an!“ Die Möglichkeiten sind mittlerweile groß: Leihen, tauschen, reparieren, Second Hand kaufen. Nicht immer die ausgetretenen Wege beschreiten, sondern etwas anders machen. Das ist es, was Conny ihren Kindern mit auf den Weg geben möchte. Genauso wie die Botschaft, dass jemand mit echter Leidenschaft für ein Thema einen Unterschied machen kann. Selbst wenn es schwierig ist. Doch in solchen Momenten lesen Conny und Lotte in der Werkstatt die Briefe ihrer Kund:innen laut vor, die sich über ihre neuen Kleidungsstücke freuen. Das gibt Kraft. „Wir tun das, was wir tun, füreinander. Wenn wir das verstehen, wird vieles möglich“, ist Conny überzeugt.
Zur Kolumne:
Christine Harbig ist Filmproduzentin, Journalistin und BNW-Mitglied. Ihre Mission ist es, nachhaltige und soziale Unternehmen sichtbar zu machen. Denn es gibt bereits viele gute Ideen für eine bessere Zukunft – doch oft sind sie noch zu wenig bekannt. In der BNW-Reihe "Sozial. Stark. Sichtbar." porträtiert sie Sozialunternehmer:innen, die zeigen, wie alternatives Wirtschaften funktioniert und welche Chancen in ihren Geschäftsmodellen stecken.